Die Zeitgenossin

Fortsetzungsgeschichte

Die folgende Geschichte ist durch die Mitarbeit verschiedener AutorInnen entstanden. Durch die verschiedenen Schreibstile und Absichten hat sie sich zu einem sehr ineressanten Projekt entwickelt, dessen Ende leider bis auf weiteres offen bleiben muss.
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Ein noch unbenanntes Projekt


eins

Die Kinder stehen auf.

Bahnhof in der Nacht. Unter kalten Scheinwerfern versucht eine alte Dame, die im Übrigen vor Kurzem ihren Ehemann, wie man so sagt, verloren hat, mit zittriger Stimme, den Bahnwärter von der Unmöglichkeit des Sachverhalts zu überzeugen, dass ein Zug an dem einen Ort ankommt ohne an dem anderen Ort jemals weggefahren zu sein, schließlich und endlich erwartet man doch die Tochter, einen Wehmutstropfen gibt es dabei natürlich dabei, und so weiter; sie hat sich auf der Anzeige,wie man so sagt, verschaut.

Leere und Stille warten gerade wieder darauf, gefüllt zu werden, unendlich reichhaltiger und interessanter gefüllt zu werden, ein erwartungsvolles Flimmern der Luft wird von ihnen gespürt, darum lieben unsere freien Intellektuellen diesen Ort. Sie sind noch jung, so jung, dass die Bezeichnung Kind durch nichts Anderes zu ersetzen ist als durch "Jugendliche" oder "junge Erwachsene", obwohl niemand von ihnen auch nur im Geringsten erwachsen ist, entwachsen vielleicht, denkt sich der Eine manchmal, wenn er Wortspiele anstellt, und obwohl unsere Truppe die Jugend nicht schlechter verkörpern könnte, das meint zumindest der ältere Bruder der jüngsten jungen Frau unter ihnen, wenn er sie so sieht, wie sie herumstehen, wie jetzt, und planlos sind. Dabei warten sie nur, da ist sich der Optimist der Gruppe sicher, und er schwärmt von den fremdesten Welten, den schönsten Menschen, der gerechten Welt ohne Besitz, und dann wird gewöhnlich gestritten.

Am Bahnsteig wird in der Folge eine Droge zu sich genommen. Der Optimist wird zum gemütlichen Egalisten, sanft wie ein Kätzchen und versöhnlich, der Eine und die Jüngste fühlen jetzt die Droge mit einer traurigen

Schwere in sich, und die Sehnsucht nach irgendetwas Anderem wird breit und laut. Am Ende werden sie wohl wieder nach Hause gehen, denkt der Eine in seinem Taumel, und sich niederlegen, jeder bei sich. Ob das wohl ein Leben lang so bleibt? Die Jüngste geht noch zur Schule, ungern, daran denkt sie, und dann denkt sie an den Anderen, auf eine traurige Art und Weise, wegen der Droge ist sie kaum mehr aufgeregt. Der Optimist ist gemeinsam mit seinen Gedanken abgeschalten worden, und die Jüngste hat die ganze große Welt verloren in diesem Moment, der für sie ewig dauern wird.

Wie immer ist die Jüngste damit im Unrecht und der Moment, wenn er jemals da war, hört auf zu existieren. Die Dinge werden einfacher; einfach weiter. Noch ist man ein wenig traurig darüber, was aber schnell verfliegen wird. Der Rauch legt sich wie eine Decke über die Gruppe junger Erwachsener, friedlich wie sich zur gleichen Zeit Nebel über ein Provinzdorf legt.

Volker nimmt den letzten Zug.

(E. Rosina)

 

zwei

Ja, der Volker, mit dem ist es eine eigene Geschichte, ein Exkurs lohnt sich vermutlich, vielmehr hoffentlich.

Eigentlich wollte er ja gar nicht einsteigen, und ebenso eigentlich war das sein Hauptproblem. Immer alles offen lassen, Optionen sollen Möglichkeiten bleiben und keine Entscheidungen nach sich ziehen, wer also in einen Zug steigt, lässt einen anderen sein, auch einen, der vielleicht erst übermorgen kommen mag und der viel schöner, größer, ansprechender wäre als der jetzige.

So kann man auch das Leben verpassen, meint in großer Sorge seine Mutter. Das mit der Ilse lassen wir jetzt aber lieber. Oder wir kommen darauf zurück, falls die Schreibe auf die Folgen von Alkoholmissbrauch kommen soll(te).

Der Volker also sitzt in diesem vermaledeiten Zug, er fragt sich schon, was das soll, da betritt eine auffallend schöne, leicht verwirrt wirkende Frau das Großraumabteil, sofort bricht ein Blickgewitter über sie herein, sie entscheidet sich schließlich für einen Sitzplatz schräg gegenüber Volker. Dieser winkt den Zurückgelassenen müde aus dem Fenster zu und schon ruckelt es und der Zug fährt ab.

Er, der Schläfrige, sieht mit einigem Neid zu, wie sie ihr einziges Gepäckstück, ein recht großes Kopfkissen, an die Scheibe lehnt und erschöpft die Augen schließt.

Die hat recht, denkt er. Das, was sie gerade braucht, hat sie mit, mehr nicht, keinen unnötigen Ballast.

Er hingegen schleppt immer Unmengen an Möglichkeiten mit sich herum, gewappnet für Vorfälle, die sich nie ereignen mögen, einen monströsen Regenschirm am strahlendsten Frühlingstag hat er sich bis heute nicht verziehen.

Vielleicht hat er auch geschlummert, schwierig zu sagen, der Nacken schmerzt, irgendwie wird er schon einge(k)nickt sein.
Er reibt sich die Augen, die Schöne ist offenbar gerade erwacht, schüttelt sich ein kleines aufreizendes Bisschen, streckt ihre langen Glieder und hat plötzlich ein Sandwich in der rechten Hand. Der Polster ist nirgendwo zu sehen.
Sie betrachtet das Brötchen und beißt schließlich mit Appetit hinein, was Volker daran erinnert, dass seine letzte Mahlzeit viele Stunden zurückliegt.

Auch ein Schluck zu trinken wäre gut, denkt er und macht sich auf die Suche nach einem Speisewagen. Die Suche bleibt erfolglos, so kehrt er schließlich um und stürzt fast, als der Zug in eine engere Kurve fährt, weil er damit beschäftigt ist, die Frau anzustarren.
Sie trinkt genüsslich aus einer Wasserflasche, die gekühlt zu sein scheint, wie die Kondenswassertropfen verraten.
Sie muss wohl schneller gewesen sein als er, und in der anderen Richtung erfolgreicher unterwegs.

Sie nach dem Speisewagen zu fragen traut er sich nicht, diese Erscheinung jagt ihm Ehrfurcht oder gar Angst ein. So geht er in die andere Richtung, doch dort befinden sich außer halbleeren Wagons nur die Lokomotive und eine Toilette.
Hier spritzt er sich einige Hände kaltes Wasser ins Gesicht und atmet tief durch.

Wenig überrascht stellt er fest, dass ihr Platz leer ist, als er in das Abteil zurückkommt.

Es wird Zeit, auszusteigen.

Er sieht Ilse fast schon am Bahnsteig stehen, hört sie beinahe lachen und sagen, er hätte gleich auf sie hören sollen.
Ausgerechnet Ilse!

(C. Rosina)

 

drei

Die drei gehen langsam den Gehweg entlang. Sie unterhalten sich weiter, die beiden jungen Männer. Durch die Wirkung der Droge wird jedoch weniger hitzig gestritten. Stattdessen malen sie sich aus, was nicht alles für die perfekte Welt nötig wäre, von der der Optimist so träumt. In diesen Momenten sind sie sich immer einig. Keine Vorwürfe, es wären unrealistische Träume, nur Zustimmung von Ihm. In diesen Momenten erscheint dem Optimisten sein Leben perfekt.

Zwei Querstraßen weiter trennen sich wie gewöhnlich ihre Wege. Abermals geht Er mit Anja weiter die Hauptstraße entlang, der Optimist muss abbiegen. Sie verabschieden sich kurz, dann ist der Optimist alleine. Kurz versucht er, seine Welt alleine zu perfektionieren. Bald denkt er jedoch wieder an seine Freunde. Ob die beiden wohl immer nur Augen für den jeweils anderen haben werden? So schön sein Leben auch ist, wenn er es so betrachtet, wünscht er sich in ein gänzlich anderes. Immer wenn er sein Leben so betrachtet, so überlegt er, versteht er die Welt nicht mehr. Die beiden gehen immer zu zweit nach Hause, und er muss alleine gehen. Wie eifersüchtig er auf Anja ist!

Der Gehweg wird langsam etwas abschüssig. Fast wäre er zu früh abgebogen. Seltsam, denkt er, ist der Brand doch schon so lange her. Seitdem wohnt er weiter weg vom Bahnhof, diesem Ort, der in letzter Zeit zu seinem Lebensmittelpunkt wird. An dem er richtig glücklich sein kann. Dieser Ort, an dem seine schlimmsten Albträume stattfinden. Dieser Ort, mit dem er seine besten und schlimmsten Erinnerungen der letzten Zeit verbindet. Er selbst mit Ihm alleine, und Anja mit Ihm alleine, er selbst quasi als neutraler Beobachter. Wobei, so überlegt er, letzteres war ein Traum, keine richtige Erinnerung. Doch was sind Erinnerungen an Träume anders als Erinnerungen an tatsächliche Ereignisse? Sie fühlen sich beide gleichermaßen echt an, gleichermaßen wunderbar, gleichermaßen schmerzhaft.

Die Droge lässt langsam nach, dennoch bemerkt er nicht, dass er verfolgt wird. Je mehr er darüber nachdenkt, desto schlimmer kommt ihm sein Leben vor. Seit seine Mutter weg ist, geht alles langsam bergab. Sie war die Einzige, die ihn immer verstanden hat, mit der er reden konnte. An jenem Tag hat das Feuer sein ganzes Leben zerstört.

Was Anja und Er gerade machen könnten? Oder schon gemacht haben? Nein, er kann gar nicht daran denken. Er hofft nur, dass beide zu feig dazu sind. Seine einzige Hoffnung in letzter Zeit, damit sein Leben einigermaßen erträglich wird. Es wird schon alles gut sein, denkt er sich, es wird schon nichts sein, sie werden schon nicht den Mut dazu aufbringen, ist doch nur eine Phase der Beiden, du wirst schon sehen.

Der Optimist dreht sich um.

Eine verzweifelt entgegenblickende Anja.

 

(A. Jahn)

 

vier

Als Kommissarin Steinbrück am Tatort ankommt, ist die Spurensuche bereits bei der Arbeit. Sie sieht sich nach dem Polizeihauptmeister um, damit dieser sie über die Details informiert. Als sie ihn entdeckt hat, begrüßen sich die beiden höflich. Die Kommissarin ist es gewohnt, dass das Klima immer etwas verkrampft ist, wenn sie zu einem Fall hinzugezogen wird. Die meisten Polizeibeamten können es eben nicht leiden, wenn die Vorgesetzten weiblich sind und in der Karriereleiter um einiges schneller ansteigen, als sie selbst es tun.

Der Polizeihauptmeister beginnt mit Details über den Fall: „Wir haben zwei Leichen, Jugendliche, in meinen Augen noch Kinder. Eine Leiche haben wir bereits identifiziert. Anja Ilionova, 17 Jahre alt. Sie hat etliche Verletzungen am ganzen Körper, sieht auf den ersten Blick aus, als ob jemand mit etwas auf sie eingeschlagen hätte, das wurde allerdings noch nicht von der Spurensuche bestätigt.“

Und die zweite Leiche?“

Ein Junge, circa gleich alt. Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir ihn identifiziert haben, die Nachbarn werden gerade befragt. Das Seltsame ist, dass er auf gänzlich andere Weise getötet wurde. Kein einziger Schlag, sondern, wie es aussieht, drei Schüsse, zwei durch die Lunge, einen in den Bauch. Aber auch das hat die Spurensuche noch nicht bestätigt.“

Noch etwas? Sonst gehen wir zum Tatort!“

Unterwegs beginnt der übliche Smalltalk: „Wie haben Sie es eigentlich so schnell hier her geschafft, Frau Kommisarin? Leben Sie nicht in Wien?“

Doch, eigentlich schon. Aber ich war zufällig mit dem Zug hier in der Nähe. Ich wollte eigentlich ein Nickerchen im Zug machen, als

mich der Polizeioberkommissar hierher bestellt hat. Naja, was soll man machen, die Opfer der Karriere.“

Hier sind wir am Tatort. Ich muss mit Wien telefonieren, Sie finden sich alleine zurecht?“

Als Kommissarin Steinbrück weitergeht, ist ihr klar, dass der Hauptmeister ihr nachsieht. Sie ist es gewohnt angestarrt zu werden, so ist es ihr im Zug auch schon gegangen. Nun ja, ihr ist auch klar, dass sie, objektiv gesehen, ziemlich hübsch ist...

Plötzlich sieht sie die erste Leiche. Ein junges Mädchen. Anja Ilionova, 17 Jahre, erinnert sie sich. Und tatsächlich, ihr Schädel sieht aus, als ob er zertrümmert worden wäre.

Wo ist die zweite Leiche? Und wo der Leiter der Spurensuche?“, fragt sie einen Mann, der gerade die Leiche untersucht.

Dieser deutet entlang des Gehweges. „50 Meter.“

Beim Weitergehen trifft sie auf den Leiter der Spurensuche. „Gibt es etwas, was mir Hauptmeister Ziegler noch nicht mitgeteilt hat?“

Die zweite Leiche wurde gerade von einer Nachbarin identifiziert. Es handelt sich um Christopher Wolf. Er wohnt nicht weit von hier, er war vermutlich am Nachhauseweg. Christopher Wolf ist anscheinend ein Adoptivkind. Früher hat er ganz in der Nähe gewohnt, doch es gab einen Brand, bei dem seine Mutter starb. Sein Vater ist schon vor 14 Jahren an Drogenmissbrauch gestorben.“

Gibt es nähere Informationen zum Brand beziehungsweise zu den Drogen?“

Die Ursache für den Brand ist unklar. Über die Art der Droge kann ich Ihnen gerade keine Auskunft geben, das müsste sich allerdings relativ einfach in der Datenbank recherchieren lassen.“

Dann machen Sie das! Gibt es irgendwelche Verdächtigen? Auffälligkeiten?“

Noch keine Verdächtigen. Auffällig sind die unterschiedlichen Tötungsvorgänge. Es könnte möglicherweise eine Verfolgungsjagd gewesen sein. Der Mörder schlägt Frau Ilionova tot, Herr Wolf will fliehen, wird aber verfolgt und niedergeschossen. Aber bestätigt konnte diese Vermutung noch nicht werden.“

Nun gut, wir wollen...“ Ein Polizist kommt angelaufen und unterbricht Kommissarin Steinbrück, „Frau Kommissarin, es wurde so eben ein weiterer Mord gemeldet, nicht weit von hier. Noch ein Junge.“

 

(J. Michl)


fünf

Folgendes hat sich am Hauptbahnhof in Linz in der bislang beschriebenen Novembernacht zugetragen. Züge kamen beständig an und fuhren ab, was aber weiter nichts Bemerkenswertes an sich hat und nicht mehr erwähnt werden muss. Fahrkarten, Getränke und Snacks gingen über Theken, wie immer, und unser Augenmerk richtet sich auf einen um einundzwanzig Uhr dreiundvierzig gekauften Fahrschein für die Strecke Linz- St. Pölten, der von der siebzehnjährigen Anja Ilionova in dieser Nacht nicht mehr gelöst wurde und von der Spurensicherung in ihrer Manteltasche gefunden wurde, nachdem sie später in der Nacht tot aufgefunden worden war. Um zweiundzwanzig Uhr drei gesellten sich zwei etwas ältere, männliche Jugendliche zu Anja, von denen der Eine gleichgültig wirkte, der zweite Jugendliche jedoch sehr aufgewühlt und begeistert zugleich, soweit das die Zeugen anhand der Gesichtsausdrücke und der Gestik einschätzen können. Es befinden sich außer diesen drei Individuen noch geschätzte sechzig Personen auf dem Bahnhof, darunter mehrere Bahnangestellte und eine dreiundsechzigjährige, elegant gekleidete Dame namens Annelise Steinbrück, die eigenen Angaben zufolge auf ihre Tochter, Elisabeth Steinbrück wartete, die aber zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in Wien in den dort eineinhalb Stunden später abfahrenden Zug gestiegen war, sondern sich gerade ein ausgedehntes spätes Abendessen in einer nahe am Wiener Westbahnhof gelegenen Pizzeria gönnte. Annelise Steinbrück machte sich daraufhin mit dem Fahrrad auf den Heimweg, um in ihrer eigenen kleinen Wohnung in der Freistädterstraße schlafenderweise auf ihre drei Stunden später eintreffende Tochter zu warten, und so müssen wir uns auf andere Zeugenaussagen verlassen. Zugleich gruppieren sich die drei Jugendlichen in einer Ecke der Bahnhofshalle und geraten offenbar in eine nicht ganz ernstzunehmende Meinungsverschiedenheit, die Gespräche zwischen ihnen setzen sich bis dreiundzwanzig Uhr elf fort, als Kommissarin Elisabeth Steinbrück gerade auf die Rechnung wartet; dabei wird des Öfteren der Standort leicht gewechselt oder auf einer nahen Bank platzgenommen. Es ist am Bahnhof schon sehr ruhig geworden, sodass die kleine Gruppe vielleicht gar nichts dabei findet, größere Mengen Marihuana aus einer dafür eigenhändig von Christopher Wolf, einem der Jungen, angefertigten Wasserpfeife aus Plastikteilen zu rauchen, die bei diesem wenige Stunden später gefunden wurde. Das Gespräch schlief ein, und besonders das Mädchen wirkte sehr abwesend auf den Imbissverkäufer, bei dem sich dieselbe um etwa dreiundzwanzig Uhr dreißig einen mit Käse gefüllten Kornspitz kaufte. Danach machte sich die Gruppe auf den Heimweg, was ungefähr zu der Zeit stattgefunden haben muss, als Kommissarin Steinbrück bereits in einem auf Gleis sieben bereitgestellten Zug von Wien nach Salzburg über St. Pölten und Linz saß und ein gewisser dreiundzwanzigjähriger Mann namens Volker Kurz in letzter Minute in den selben Wagon stieg, mit der Absicht seine Mutter Ilse in St. Pölten für ein paar Tage zu besuchen, und vielleicht danach auch noch dieses reizende Mädchen in Linz zu überraschen, das er letzte Woche dort kennengelernt hatte, und mit dem er seitdem lockeren Kontakt per Sms hatte. Wie Volker im Nachhinein berichtet, war er zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu einem Besuch entschlossen, weil ihm der Eine Sorgen machte, dessen Namen er nicht kannte, der aber bei dem kurzen Treffen den Eindruck gemacht hatte, an Anja interessiert zu sein. An die Minuten, die Volker vorher mit Anja alleine verbracht hatte, erinnerte er sich dafür mit Sehnsucht. Sie hatte ihn scherzhaft den Anderen genannt und seine Hand genommen, und um dreiundzwanzig Uhr zweiunddreißig, als der Zug aus dem Wiener Westbahnhof rollte, und Anja, Christopher und der noch nicht identifizierte Junge die Bahnhofshalle verließen, überlegte Volker, wie wir gerade, wer denn der Eine sei, während er der Andere war.

(E. Rosina)

 

sechs

Der Eine ist ein Tänzer, ein metaphorischer. Zwar weiß Anja nichts, aber mit der Naivität, die immer Vorrecht der Jüngsten ist, ahnt sie etwas vom ersten Moment an. Demselben Gefühl folgend verspottet sie Volker als den Anderen, weil seine Ernsthaftigkeit im krassen Kontrast zur Verspieltheit des Einen steht.

Zuvor treffen sich Anja und er an einer Straßenecke, die wie alle Straßenecken in Linz überallhin führen. Es hilft nichts: Linz bleibt eine Kleinstadt. Anja spricht und gestikuliert, er steht mit den Händen in den Taschen seiner abgewetzten Jeans. Von außen ist das Gesprächsthema nicht ersichtlich, zu sehr springt sie in Gedanken von einem Ort zum anderen, ihr Markenzeichen, wofür er sich immer wieder mit ihr trifft.

Die Gruppe kennt ihn als Juri. Er antwortet auf den Namen, als wären diese vier Buchstaben wirklich er, aber tatsächlich streift er ihn jedes Mal an der nächsten Straßenecke ab, wird ein Anderer (nur einer von vielen, nicht der Andere, der ja Volker ist). Das ist der Tanz, das spielerische und gleichzeitig rücksichtslose Vergnügen: zu niemandem gehören, niemanden brauchen, nichts wollen, ein Niemand sein. Mit Genuss bemalt er seine weiße Silhouette mit schwarzen Markierungen. Seine Gewohnheit ist das Über- und Abstreifen von Persönlichkeiten.

Er nimmt die Pfeife vom Optimisten entgegen und saugt den Rauch tief ein, in der Hoffnung auf inneres Verrotten. Es wäre nicht schade, aber was ist das überhaupt für ein Wort, was gibt es schon zu bewahren? Später betäubt die Schwere, die sich mit dem bläulichen Rauch über Anja und ihn legt, seine irrenden (irren) Gedanken. Er schielt zu ihr und erträgt die aufkommende Sehnsucht nach etwas Anderem, sie wendet ihm die bemantelte Seite zu.

An der Unionkreuzung trennen sie sich vom Optimisten, der Eine aufatmend und froh, diesen Idealismus gepaart mit Wehmut aus den Ohren zu bekommen. Anja schlendert an seiner Seite, ahnungslos und ahnungsvoll, eine kindliche Weise, solange er sie kennt, was lange ist. Er folgt dem Auf und Ab ihrer glänzenden Locken, an denen der Nachtwind zupft. Er sucht ihren Blick, aber sie starrt und redet in die Luft vor ihnen.

Worte fallen von seinen Lippen und zerschlagen den Moment. Sie fühlt sich von Nostalgie gestreift. Irgendwann holt sie Luft, nur um das Vakuum zu füllen, was ihr misslingt. Deshalb streckt er die Hand aus, sucht eine unmögliche Bestätigung in ihrer Körperwärme.

Sie wirbelt herum. Das Klackern ihrer Absätze lenkt ihn für einen Moment ab, er neigt den Kopf lauschend zur Seite, bevor er ihr folgt. Das Unheil legt sich wie eine Wolldecke über sie, ihn, den Optimisten, und gibt ihm das Gefühl, in einem zu kleinen, zu heißen Raum zu ersticken.

Zwei Gestalten schälen sich aus der Dunkelheit, aber auf einmal hallen Schritte viel näher und eine Bewegung in seinen Augenwinkeln reißt seine Aufmerksamkeit auf die Seitengasse zu seiner Linken.

Vielleicht wird er Anja verdammen, wie sie ihn gerade verdammt hat, aber kann er sie überhaupt erreichen?

(V. Tockner)

 

 



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